Stiftungshorizont

Vom Vorsorge-Prinzip zur Wiederentdeckung der Allmende
Vorüberlegungen zur ‘Not-wendigen‘ Erneuerung eines Gesellschaftsvertrages für das 21. Jahrhundert.
(aus dem Vorwort von Kant, das Prinzip ‚Vorsorge’ und die Wiederentdeckung der ‚Allmende’)

2. ‚Allmende’ als systemische Denkfigur

Hier nun kommt der Allmende-Gedanke ins Spiel, sowohl als lokal bzw. regional verwurzelte und tradierte gesellschaftliche Praxis wie auch als globales systemisches Denkmodell. 3 Diese Institution ist - im Sinne von Vorsorge neu zu bedenken und gegenwärtigen Bedürfnissen anzupassen.
In Kants Rechtslehre § 13 heißt es dazu:
Alle Menschen sind ursprünglich(...) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.h. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat." Kant nennt ihn "gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche".
Unter der Überschrift "Das Weltbürgerrecht" hält er fest "da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens (...)". (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 63)
Schon 1795 zieht Kant aus diesem Gedanken des Gemeinschaftsbesitzes in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" politische Schlussfolgerungen. Er leitet daraus ein Besuchsrecht und weltbürgerliche Verantwortung ab.
Kant ging bei der treuhänderischen Verwaltung des Gemeinschaftseigentums der Menschen an der Erdoberfläche freilich noch von dem funktionierenden Regulativ konkurrierender Besitzbürger, einem "Antagonismus" der "ungeselligen Geselligkeit", aus.
Nach dem Ende des traditionellen Kolonialismus und der imperialen Kriege um die Aufteilung der Erdoberfläche stellt sich das Problem heute anders und in verschärfter Weise dar: jetzt geht es differenzierter um Ressourcengerechtigkeit und um die Erdatmosphäre!
In dem Report des Wuppertal Instituts "Fair Future" heißt es dazu im Zusammenhang mit der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen von 1992 und dem Kyoto-Protokoll von 1997:
Weil Emissionen keine Grenzen kennen, bedarf es multilateraler Beschlüsse, und weil die Atmosphäre ein Gemeinschaftsgut ist, kann über sie nur in geteilter Souveränität verfügt werden." (a.a.O. S. 190)

Doch die Analyse des Institutes ergibt:
Obgleich diese Biosphäre allen gleich und niemandem im Besonderen gehört, wird sie von Regionen und Nationen asymmetrisch genutzt. So ist die Weltgesellschaft weit davon entfernt, allen Erdenbürgern den gleichen Zugang zu den Naturgütern des Planeten zu gewähren."(S. 46)

Das Potsdamer Manifest 2005 von Hans Peter Dürr, I. D. Dahm und Rudolf zur Lippe kommt zu ähnlich bedrückenden Ergebnissen und erweitert die Dimension der Allmende, wenn es festhält, dass die ökologische Grundlage der Erde "räumlich wie zeitlich Gemeinschaftscharakter hat." (S. 19) Weiter heißt es in der Denkschrift auf S. 46/47: "Am Gemeingut - commons - erhält die Ko-existenz der Menschen miteinander und mit unserer natürlichen Mitwelt praktische Bedeutung. Gebrauch und Fürsorge müssen eine Einheit am Gemeinschaftsgut bilden."
Und schon 1993 resümiert Otfried Höffe, international renommierter Kant-Experte, in "Moral als Preis der Moderne":
Der Gedanke der intergenerationellen Gerechtigkeit zwingt uns, die überlieferten Eigentumstheorien neu zu überdenken. (...) Als eine prinzipielle Vorgabe ist die Erde samt ihren Früchten ein Gemeineigentum der Menschheit, ihre alle Generationen übergreifende Allmende. Weil die Erde allen gleichermaßen gehört, hat sie die Bedeutung eines Kapitals, von dessen Zinsen jede Generation neu lebt. Die technisch-ökonomische Zivilisation darf den Zinsertrag auf eine Höhe bringen, um die sie die früheren Generationen beneiden würden; das Kapital antasten darf sie aber nicht. Tut sie es trotzdem, so vergreift sie sich an fremdem Gut, an dem der nachfolgenden Generation nämlich; sie nimmt, was man meist nur metaphorisch versteht, jetzt in einem wörtlichen Sinn vor: einen Raubbau an der Natur." (a.a.O. S. 185/186)

Widerstand gegen eine besondere Form solchen "Raubbaus" stand im Zentrum der Verleihung des Kant-Weltbürger-Preises 2006. Am 7. Mai 2006 wurde der Preis Frau Christine von Weizsäcker und dem ehemaligen Umweltminister Großbritanniens Michael Meacher, für ihre mutige, unabhängige kritisch-aufklärende Öffentlichkeitsarbeit und ihren politischen Einsatz zugunsten der Biodiversität und gegen ihre agrogentechnische Gefährdung verliehen.
Wie der Klimaexperte Prof. Dr. Hartmut Graßl auf einem Vortrag Anfang 2006 anläßlich der Jahrestagung des VDW (Verband deutscher Wissenschaftler) ausführte, kann die Bedeutung der Vegetation und ihrer Biodiversität schon für das Klima gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Um wie viel mehr muß das für die Frage der Ernährung unserer Weltbevölkerung gelten!
Statt dessen soll nun z.B. die Entwicklung einer Nahrungsmittelprothese, wie des "golden rice", die den Gemüseverzehr überflüssig macht - gefördert durch die wohl weltgrößte Stiftung von Bill Gates - dielebensrettende Vorsorge gegen den Hunger der Welt bilden - gestützt auf die Macht und das Know-how einiger transnationaler Saatgut- und Lebensmittelkonzerne. Und diese GVO-Produktion geschieht um den Preis einer nicht rückholbaren Kontamination unserer natürlichen Biosphäre durch eine längerfristig kaum kontrollierbare Auskreuzung von genveränderten Pflanzen. Hierzu noch einmal O. Höffe in seinen Grundsatzüberlegungen zu Wissenschaft, Technik und Umwelt von 1993:
"was die traditionelle Ingenieurskunst kann, nämlich Versuchsmodelle, die missfallen, auf den Schrotthaufen werfen, ist der Gentechnik verwehrt. Wer nicht vorweg besondere Vorkehrungen trifft, läuft Gefahr, sich als Zauberlehrling wiederzufinden; das einmal entstandene Produkt entgleitet der menschlichen Verfügung und geht seine eigenen, unberechenbaren Wege." (O. Höffe, Moral als Preis der Moderne, S. 78)
Und er hält in Anwendung unserer europäisch-kantisch-rechtsstaatlichen Prinzipien fest "was gegen sich selbst rechtsethisch erlaubt ist, ist gegen andere rechtsethisch verboten (...). Niemals darf eine Güterabwägung übersehen, dass die Risiken im Falle der Genforschung einen Wert betreffen, der gegen niederrangige Werte gar nicht aushandlungs- und kompromißfähig ist" (a.a.O. S. 79). Auch ein vermuteter humanitärer Nutzen gebe "keine moralische Erlaubnis, Leib und Leben anderer zu gefährden." Es gebe für einen Rechtsstaat ein rechtsethisches Verbot, andere zu schädigen.

Die folgenden Beiträge dieses Bandes konzentrieren sich auf diese natur- und agrarwissenschaftlichen und rechtsstaatlichen Aspekte des Umgangs mit der ‚Allmende Natur’ und der ‚Allmende Wissenschaft’.
Der erste - die Preisverleihung dokumentierende - Teil (auf der Basis der Mitschriften der Tondokumente) enthält das Grußwort des Freiburger Oberbürgermeisters Dr. Dieter Salomon, die Rede des Stiftungsvorstands zur Begründung der Preisträgerwahl, die Laudationes Prof. Dr. Klaus Töpfers und die Dankreden der Preisträger. Er wird in einem zweiten Teil ergänzt durch Beiträge von Prof. Dr. Maria Finckh, Michael Meacher, Prof. Dr. Dietmar Mieth, Dr. Beatrix Tappeser, Rüdiger Stegemann und Christine von Weizsäcker, die sich mit dem Problem der Biodiversität und der Technikfolgenabschätzung sowie mit kritischen ethischen und politischen Fragen zur Gentechnik beschäftigen. Dabei zeigt der Beitrag von Prof. Finckh, dass Rechtsstaatlichkeit auch zu kontraproduktiven Überregulierungen führen kann, die schon diesseits gentechnischer Eingriffe Biodiversität durch Patentierungen dramatisch bedrohen. (vgl. dazu Fair Future S. 118, 2. Abs.)
Ein Beitrag Hermann Scheers, der einen Ausblick gewährt auf eine sich abzeichnende und dringend gebotene energiepolitische Strukturwende in Richtung dezentraler Allmenden, beschließt diesen Teil. Es folgen noch ein paar einschlägige Dokumente.
Die sich in den politischen und wirtschaftlichen Vorsorge-Ansätzen zeigenden Widersprüche - wie auch die Funktion einer bestimmten Art von beflissener bis willfähriger Drittmittel-Wissenschaft - fordern in ihrer Ignoranz gegenüber dem jeweiligen Willen der Bevölkerung dazu heraus, die Idee der Allmende zu einem systemischen Modell zu entwickeln, in dem zivilgesellschaftliche lokale bzw. regionale Allmendeformen eine wichtige Rolle für die Erneuerung und Diversifizierung von Rechtsstaatlichkeit spielen könnten. Dieses Modell könnte im übrigen den Zugriff auf die Natur-Ressourcen im Sinne einer Kant’schen Ethik neu, zukunftsverträglicher und zugleich gerechter regeln. Al Gore hat sich bereits auf den Weg gemacht; auf dass wir uns den unbequemen Wahrheiten endlich stellen. Nun sollten andere folgen und ihre partikularen Interessen und Loyalitäten zurückstellen hinter die für ein weltinnenpolitisch betrachtetes globales Gemeinwohl.

3  Nicht nur sprachlich, sondern auch als tradierte gesellschaftliche Praxis - nicht zuletzt zugunsten der sozial Schwächeren - taucht die Allmende (schweiz. ‚Allmend’) im ländlichen Raum Süddeutschlands und der Schweiz (vgl. die ‚commons’ in Großbritannien) neben der bei uns seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden privatwirtschaftlichen Nutzung der Natur-Ressourcen noch auf: z.B. als Gemeinschaftsbesitz bzw. Nutzungsrecht von Gemeindewäldern und -weiden.
In vielen Ländern der Südhalbkugel, die über den Kolonialismus in eine exportorientierte Landwirtschaft von Monokulturen (z.B. für Kaffee, Kakao, Baumwolle, Soja etc.) getrieben wurden, dient solch Gemeinschaftsbesitz der ländlichen Bevölkerung heute zum Überleben. Die Bevölkerung Bangladeschs etwa erhält laut Report des Wuppertal Instituts etwa 40 % ihrer Ernährung aus Flächen und Gewässern, die nicht bewirtschaftet werden. In Brasilien drängt man die arme Bevölkerung aus den Slums der großen Städte zur Migration und Brandrodung in die Urwälder des Amazonasgebietes, deren Bedeutung als ‚Allmende’ im Sinne eines globalen Sauerstoff- und Wasserreservoirs bzw. Klimareglers von der Weltgemeinschaft in dem Maße erkannt wird, in dem man sie dezimiert.